1982: „Rekordbeteiligung an der Mariazeller Wallfahrt mit 155 Teilnehmern, sieben Rollen Leukoplast leisteten wertvolle Hilfe…“ So die Überschrift mit überquellendem Gruppenfoto in der NÖN. Meine erste Wallfahrt, nicht ahnend, was mich tatsächlich erwarten würde! Begeisterte Schilderungen, die Lust Neues zu erleben, hineinzuwandern in Gottes wunderbare Schöpfung… das war meine Motivation. Damit allerdings begann für mich eine neue „Zeitrechnung“. Ich zählte die Jahre nicht mehr von Silvester zu Silvester, sondern von Wallfahrt zu Wallfahrt. Mehr als drei Jahrzehnte prägte der Lauf über Hügel, Berge und Täler das „Dazwischen“, dieses, mein Leben – im Wechsel von Höhen und Tiefen, Lachen und Weinen, Zweifeln und Hoffen, Dunkelheit und Helle, Einsamkeit und Gemeinsamkeit… Wallfahrt – welche Metapher für das Leben!
Leukoplast habe ich nie gebraucht, doch die Bewunderung und Hochachtung für jene, welche die Blasen der Fußmaroden mit Hingabe durchstachen, verklebten, betreuten, war groß. Leichtfüßig lief ich selbst dahin, ließ mich führen durch grüne Auen zu Ruheplätzen nicht immer am Wasser, dafür mit Millirahmstrudel und Forelle in Rohr, freute mich alljährlich am berauschenden Blick vom Gipfel des Untersberges, bei Sonnenschein Regen oder Sturm, sehe noch den balzenden Auerhahn vor meinen Augen und verspüre im Mund den brennenden Schmerz auf der Zunge nach dem Ansetzen der Schnaps-Flasche auf der Wegscheider Alm, vor dem Abstieg uns an den Händen fassend, um von Freundschaft zu singen und den Vater im Himmel zu loben. Welch Geschenk, wenn mir in der Weggemeinschaft Vertrauen entgegen gebrachte wurde, Einblick gewährt wurde in innere Welten. Wie anders empfand ich plötzlich für Menschen, im Wissen um deren Erlebtes, Gefühltes. Ganz nah’ sind sie mir gerückt und geblieben. Beruhigend und entspannend mit fortschreitenden Jahren (Resignation od. Einstellungsänderung?) das Rosenkranzbeten…Die anfangs zurückgedrängten Tränen der Rührung (hab’ ich mich geniert?) beim Einmarsch in Mariazell, die Messe im Gemeindesaal, das prickelnde Gläschen Sekt beim „Scherfler“…Wallfahrt, Rausch aller Sinne!
Tja, und dann, auf der Heimfahrt im Bus die betroffene Feststellung: ich habe vergessen, meine Anliegen, meine Bitte, meinen Dank hinzulegen, vorne beim Gnadenaltar, weil so erfüllt und aufgewühlt, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, vielmehr wortlos an den Gesichtern der Weggefährten hängend, um mich unbewusst tragen zu lassen von ihrem Gebet… Das Gefühl eine Chance verpasst zu haben überkam mich freilich viele Male, doch tröstete mich der Gedanke, dass Gott ganz andere Maßstäbe anlegen würde als wir Menschen es tun; es schon gut so wäre, wie es ist, weiß er doch am besten um alles.
„Lebensräume gestalten, Glaubensräume öffnen“ war einmal unser Wallfahrtsmotto. Damals schrieb ich in mein Tagebuch: „mein Herzensraum hat sich auf der Wallfahrt noch mehr geweitet; es ist, als ob der Boden meines Glaubens gedüngt wurde, neue Nahrunge bekommen hat. In diesen drei Tagen sind mir Flügel gewachsen, die mich hinein tragen werden in den Lebensraum, der vor mir liegt. Stärker und leichter fühle ich mich. Möge dies bis zu meinem letzten Tage anhalten.“
Biggi Kempter
Berichte aus dem Buch 50 Jahre Fusswallfahrt von Perchtoldsdorf nach Mariazell
Fotos: Privat, Verein der Freunde der Wallfahrt von Perchtoldsdorf nach Mariazell, Biggi Kempter, Dona Grafik Design